Sachtexte – Prof. Dr. Dr. Grotemeyer

Professor Dr. Dr. Hermann Grotemeyer

Von Rudolf Averbeck

Das muss man sich einmal vorstellen: eine Frau aus Dänemark konvertierte zum katholischen Glauben; ein Geistlicher wollte sie im katholischen Glauben unterrichten – und lernte dafür Dänisch. Dieser erstaunliche Geistliche war Hermann Grotemeyer, geboren am 30.10.1824 in Riesenbeck, ein Mann, der heute weitgehend vergessen ist.

Zu Unrecht, denn zweifellos ist er einer der bedeutenden Riesenbecker und in mehrfacher Hinsicht ein höchst interessanter Priester und Gelehrter.

Seine Eltern waren der Kaufmann Hermann Grotemeier und Elisabeth geb. Brinckhues. Er hatte sechs Geschwister: Heinrich Andreas (1828), Johanna Elisabeth Theresia (1830), Josef Gustav (1833), Bernard Arnold (1836), Johann Ludwig (1840) und Anton Bernhard Eduard (1843).

Außer Hermann wurde auch Johann Ludwig Priester; er ging als Pfarrer nach Lancaster, Pennsylvania (USA), wo er die desolaten Finanzen der St. Josefs-Kirchengemeinde ordnete und eine neue Kirche erbaute. Im Jahr 1880 stifteten anlässlich des 50jährigen Priesterjubiläums des Riesenbecker Pastors H. Schwarz „seine Pfarrkinder in Nordamerika“ ein mit Edelsteinen verziertes silbernes Reliquienkreuz. Diese [Riesenbecker] „Pfarrkinder in Nordamerika“ waren neben „Lois“ Grotemeier (Pastor in Lancaster, Pennsylvania) auch J. H. Oechtering (Pastor in La Porte, Indiana), J. Ottenhues (Pastor in Albany, New York), G. Becker, E. Piepenbrock und F. Deuss (alle drei Dubuque, Iowa).

Über die Volksschulzeit von Hermann Grotemeyer konnte ich nichts herausfinden. Er hatte offensichtlich Privatunterricht bei Nikolaus Püngel (1835 – 1848 Pastor in Riesenbeck) und Hermann Schwarze, zu dieser Zeit Kaplan in Riesenbeck. Vermutlich wurde er von den beiden Priestern u.a. mit Lateinunterricht auf das Gymnasium vorbereitet, denn er besuchte die Gymnasien in Warendorf und Dorsten.

Warum ein Riesenbecker Junge ausgerechnet nach Warendorf zum Gymnasium ging, konnte ich nicht herausfinden.

1847 wurde Hermann Grotemeyer zum Priester geweiht. Zur weiteren Ausbildung als junger Priester ging er nach Berlin; 1850 wurde er Kuratspriester in Wettringen, wo er 1851 entlassen wurde, um seine philologischen Studien in Berlin fortzusetzen. 1852 promovierte er an der Akademie Münster zum „Dr. phil.“; das Thema seiner Doktorarbeit lautete „Über Geist, Seele und Verstand bei Homer“.

Von 1852 – 1856 war er Stadtmissionar in Warendorf und gleichzeitig Lehrer am Gymnasium in Warendorf. Während dieser Zeit promovierte er 1853 an der Akademie Münster zum „Dr. theol.“, verbunden mit dem „Examen pro facultate docendi“, der Lehrerlaubnis für Gymnasien.

1855 – 1858 war er Rektor am Progymnasium in Dorsten, wurde 1860 für kurze Zeit Vikar in Wolbeck und ging 1861 als zweiter Oberlehrer ans Königliche Gymnasium Thomaeum in Kempen am Niederrhein. In einem Schulbericht des Thomaeums aus dem Jahr 1873 ist zu lesen, dass er Griechisch, Hebräisch, Latein und Religion unterrichtete.

Als hochgeachteter und sehr beliebter Erster Oberlehrer (Titel: Professor) ging er 1890 in den Ruhestand. Über seine Verabschiedung wurde in der „Kölnischen Volkszeitung“ vom 12. April 1890 ausführlich berichtet. Anlässlich der Abschiedsfeier hatten seine ehemaligen Schüler (80 waren persönlich erschienen) ein kleines Liedbüchlein drucken lassen; hierin finden sich neben den altbekannten Klassikern wie „Oh alte Burschenherrlichkeit“ zahlreiche Studentenlieder mit griechischen, vor allem aber auch lateinischen Passagen. Die ehemaligen Schüler schenkten ihrem hochverehrten Lehrer ein vergoldetes Stehalbum mit Portraitfotos von sich. Unschwer ist auf diesen Fotos zu erkennen, dass etliche von ihnen Priester geworden waren. Das Stehalbum aus vergoldetem Messing befindet sich heute im Besitz der Familie Gustav Grotemeyer in Altenberge.

Den Ruhestand verbrachte Hermann Grotemeyer in seiner alten Heimat Riesenbeck als Hausgeistlicher auf der Surenburg. Er starb im Jahr 1903 unter tragischen Umständen: bei einem Besuch in Bergeshövede wurde er von einem Kettenhund ins Bein gebissen. Nur auf Zureden seines Bruders Arnold (der damals in der Hospitalstraße im heutigen Vereinshaus lebte) ging er ins Krankenhaus, wo er nach drei Tagen am 21.03.1903 an einer schweren Blutvergiftung starb. Seine Todesanzeige stand am 24.03.1903 in der Ibbenbürener Volkszeitung; in der gleichen Ausgabe findet sich auf der Titelseite ein ausführlicher Bericht über den Tod von Clemens August Freiherr von Heereman (Vizepräsident des Abgeordnetenhauses des Reichstages, Großvater von Constantin Freiherr von Heereman).

Eine Woche später berichtete die Ibbenbürener Volkszeitung ausführlich über die sehr große Beerdigung von Hermann Grotemeyer. Er wurde am 26.03.1903 in Riesenbeck auf der Familiengruft Grotemeyer-Schencking beigesetzt. Diese Gruft befindet sich bis heute auf dem „alten“ Friedhof, der Grabstein von Hermann Grotemeyer allerdings wurde entfernt.

Zwei Tage später, am 28.03.1903, wurde Clemens August Freiherr von Heereman am Außenchor der Pfarrkirche St. Kalixtus (Südseite) beigesetzt.

Riesenbeck erlebte somit innerhalb von wenigen Tagen zwei sehr große Beerdigungen.

Der Tod von Hermann Grotemeyer wurde als immerhin so bedeutsam eingestuft, dass er sogar in den USA veröffentlicht wurde (in der „Indiana Tribune“ vom 13. Mai 1903 unter „Europäische Nachrichten. – Provinz Westfalen.: Riesenbeck).

Hier verschied der Jubilarpriester Dr. theol. et phil. Hermann Grotemeyer im Alter von 79 Jahren.“

Hermann Grotemeyer entstammte einer begüterten Kaufmannsfamilie (die z.B. der Kirchengemeinde St. Kalixtus die alte, seit 1969 verschollene Kommunionbank geschenkt hat) und war selbst sehr wohlhabend. So gehörten ihm zahlreiche Ländereien, aber auch ein Mitanteil am Haus in der Hospitalstraße 6; sein Bruder Arnold verkaufte es 1909 an die Kirchengemeinde St. Kalixtus, diese schenkte es Pfarrer Eduard Wegener zu dessen goldenem Priesterjubiläum, um dort einen Kindergarten unterzubringen. Zu Ehren von Pfarrer Wegener wurde das Haus „Eduardi-Haus“ genannt. Im Krieg zerstört, wurde es in den Nachkriegsjahren als Vereinshaus von der Kolpingsfamilie wiederaufgebaut. Das Vermögen von Hermann Grotemeyer wurde von seinem Bruder Heinrich Andreas in Altenberge verwaltet.

Während seiner Zeit auf der Surenburg fuhr Hermann Grotemeyer jeden Tag auf der Gräfte eine Viertelstunde Kahn, im Winter lief er dort Schlittschuh. Trotz seines fortgeschrittenen Alters ging er öfters zu Fuß nach Altenberge (!). Zu „Ostern 1958“ schrieb die Ibbenbürener Volkszeitung anlässlich des 50. Todestages (?!) von Hermann Grotemeyer: „Als er auf einem Heimweg [Anm.: von Altenberge] einmal von jungen Burschen überfallen, beraubt und verprügelt wurde, bat er bei der Gerichtsverhandlung, die Übeltäter freizusprechen, da sie sicher nicht aus Bosheit gehandelt hätten.“

Dieser Zeitungsartikel von 1958 stammt aus einer Zeit, in der sich die ältesten Riesenbecker noch gut an Hermann Grotemeyer erinnern konnten. Wie populär Hermann Grotemeyer damals in Riesenbeck noch war, das zeigen die Anekdoten über ihn, die in diesem Artikel erzählt werden. Insbesondere seine unglaublichen Sprachkenntnisse (er sprach 7, nach einer anderen Quelle sogar 13 Sprachen, konnte die Kirchenväter in 5 toten Sprachen lesen und beherrschte sogar Koptisch) waren offensichtlich im Volk lebendig geblieben. So traf ihn angeblich Pfarrer Wegener beim intensiven Studium eines Buches an. Auf Wegeners Frage antwortete er, dass ihm in diesem Buch ein neuer ungarischer Dialekt begegnet sei, den er noch lernen wolle.

Zu seiner Person gehörte auch eine gewisse Zerstreutheit. So vergaß er bei seinen Predigten oftmals jegliches Zeitmaß. Er hatte deshalb eine Absprache mit dem Küster: nach einer Viertelstunde Predigt gab der Küster ein Klingelzeichen. Es soll vorgekommen sein, dass er das Klingelzeichen überhörte -–und auch das zweite Klingelzeichen nach einer weiteren Viertelstunde.

Trotz seines Vermögens und seiner hohen laufenden Einkünfte lebte Hermann Grotemeyer sehr anspruchslos. Bekannt und sehr geschätzt war er in der Bevölkerung insbesondere auch wegen seiner Großzügigkeit. So unterstützte er zahlreiche bedürftige Familien. Im Priesterseminar Münster trug er alle Kosten der Riesenbecker Priesterkandidaten.

Auf seinem Totenzettel ist zu lesen: „Der Verstorbene war ein Mann der Wissenschaft und des Gebetes, ein Muster echt priesterlichen Wandels, von seltener Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit, der alles Aufsehen Erregende mied und im Verborgenen wirkte; und Gott, der ins Verborgene sieht, wird ihm die unzähligen Wohltaten, die er den Bedürftigen und Notleidenden gespendet, hoffentlich reich belohnen.“

Einen großen Teil seiner umfangreichen Privatbibliothek vermachte er den Bischöflichen Erziehungsanstalten.

Hermann Grotemeyer war aber nicht nur Priester, sondern auch Wissenschaftler. Er veröffentlichte mehrere wissenschaftliche Bücher:

  • 1851 „Theses controversae … de L. Attii Tragoediis“, Verlag Regensberg, Münster; Das Buch ist in Latein geschrieben mit zahlreichen griechischen Passagen. Im Vorwort ist eine „Vita scriptoris“, also sein Lebenslauf, zu lesen. Dort schreibt er, dass er nach dem Besuch der Privatschule Schwarz mit 14 Jahren auf das Warendorfer Gymnasium ging.
  • 1852 „De furtiva mercium importatione. Kommentatio Ethico-Pastoralis… scripsit Hermannus Grotemeyer (Verlag Regensberg, Münster)
  • 1854 „Homers Grundansicht von der Seele“, geschrieben auf Deutsch, trotzdem wegen zahlreicher griechischer Passagen nur mit Griechischkenntnissen lesbar (gedruckt in Münster in der Theissing’schen Offizin)
  • 1863 „Über Tertullians Leben und Schriften Teil 1“, geschrieben auf Deutsch, wegen zahlreicher lateinischer Zitate nur lesbar mit Lateinkenntnissen.
  • 1865 „Über Tertullians Leben und Schriften Teil 2“ (s.Teil 1)
  • 1871 „Über die Verwandtschaft der indogermanischen und semitischen Sprachen“,

geschrieben auf Deutsch. In der Vorrede weist Hermann Grotemeyer auf die augenfällige Abstammung der indogermanischen und semitischen Sprachen aus gemeinsamen Wurzeln hin, insbesondere wegen zahlreicher Vokabel- und Grammatikähnlichkeiten. Grotemeyer geht dabei von einer gemeinsamen Ursprache aus, als deren geographische Lage er „nach allen historisch sichern Dokumenten … das Flußgebiet des Euphrat = Tigris in Vorderasien“ ansieht. In der Ursprache, davon geht Grotemeyer aus,  m ü s s e n  bestimmte Bezeichnungen vorhanden gewesen sein, „deren spätere Bezeichnungen auf diese Ursprache verweisen“. Er denkt dabei z.B. „an die gewöhnlichsten Bezeichnungen der Naturkörper und Elemente, des Menschen nach Alter und Geschlecht, seiner Teile und Glieder, die einfachen Verwandtschaftsnamen, …, die allverbreiteten Pflanzen und Thiere, …, die einfachsten Ort= und Zeitbestimmungen, …“ Dieser Forschungsansatz scheint mir bis heute sehr aktuell zu sein, wenn auch der Ort der Ursprache inzwischen allgemein nördlich des Schwarzen Meeres vermutet wird.

Inwieweit Grotemeyer seinerzeit mit seinen Forschungen in der Fachwelt akzeptiert war, das ist für mich heute kaum noch feststellbar. In Germanistenkreisen der Universität Münster scheint der Name Hermann Grotemeyer heute jedenfalls nicht mehr bekannt zu sein.

1900 „Studien zu den Visionen der gottseligen Augustinernonne Anna Katharina Emmerick“ (er versuchte, die Widersprüche in den Veröffentlichungen von Clemens Brentano zu klären; diese spielten eine große Rolle im ersten Seligsprechungsverfahren von A.K. Emmerick). Diese Ausarbeitung Grotemeyers hatte ganz offensichtlich eine gewisse Nachwirkung, denn in späteren Veröffentlichungen anderer Autoren wurde öfters auf diese Ausarbeitung Bezug genommen.

Professor Dr. Hermann Grotemeyer war ein wirklich bemerkenswerter Mann aus Riesenbeck – ein hochgeachteter Theologe und Gelehrter mit unglaublichen

Sprachkenntnissen. Auch wenn sein Grabstein nicht mehr existiert – er sollte auf keinen Fall vergessen werden.

[veröffentlicht im Jahrbuch des Kreises Steinfurt 2019]