Literarische Texte – Lyrik“De Puppenmama”

Plattdütschk

Dao wäör so ‘n graut Wicht, dat rannde jeden Dagg bi us vör’t Huus hiär nao Schole hen. Dat wäör wat trüggebliëben, dat konn man seihn, sogar ick äs kleine Blage. Un dat wäör sittenbliëben all ‘n paar Maol. De Moher staffeerde dat immer well weet wu ut, dat löp immer mit witte Strümpe, ganz reinlicke witte Strümpe un blenkerige schwatte Lackschohe, ganz adrett, ganz akkraot, sowat hadden wi Blagen doch domoss üöwerhaupt nich. Aower de Moher, de Moher, de hadde Angst, un eenes Dages…”

 

Hochdeutsch

“Da war so ein großes Mädchen, das rannte jeden Tag bei uns vor dem Haus her zur Schule hin. Das war etwas zurückgeblieben, das konnte man sehen, sogar ich als kleines Kind. Und das war sitzengeblieben, schon ein paar Mal. Die Mutter staffierte das immer wer weiß wie aus, das lief immer mit weißen Strümpfen, ganz reinlichen weißen Strümpfen und glänzenden schwarzen Lackschuhen, ganz adrett, ganz akkurat, so etwas hatten wir Kinder doch damals überhaupt nicht. Aber die Mutter, die Mutter, die hatte Angst, und eines Tages…”

[…   Gespräch mit einer alten Frau, 2008, in einem Dorf im nördlichen Münsterland]

De Puppenmama

Se gönk so gärn nao Schole hen
de Haore flüögen füerraut
so satt se in de lesste Bank
se wäör so graut se wäör so graut
Mit witte Strümpe jeden Dagg
dat hadde süss nicheene
dat raude Kleed so schön adrett
se wäör halleen se wäör halleene
Se woll ‘ne Puppenmama sien
wat änners woll se nich
Sibille lagg in iähre Arms
un schreide nich un schreide nich
‘ne biätre Puppenmama
de konn man niärnssens finnen
un iähre schwatten Schohe
konn se all söffs tobinnen
De Jungs mit iähre Trummeln
un iähr Fähnken flattkede vöran
de süngen iähr Fähnkeslied
un dann un wann un dann un wann:
“Brand-foss, Schweet-foss, Fü-er-foss
sta-ken-un-wies äs een Oss!”
An ‘n Grunde lagg Sibille
dat Wicht dat Wicht et rannde loss
Se weigede Sibille
“Maikäfer”, süng se, “flieg!
De Papa is in ‘n Krieg
de Mama is in Pommerland
Pommerland, dat wätt verbrannt.”
“Brand-foss, Schweet-foss, Fü-er-foss
sta-ken-un-wies äs een Oss!”
De Füerhaore weiheden
De Füerhaore gleiheden
Dat Wicht wäör wegg mit maol
“Mama? Waohen is dat Wicht?”
“Krank wurden – in ‘t Spitaol -”
“Mama? Wu hett dat Wicht?”
“Schwieg still, mien Kind.  Schwieg stille.”

Anm.: Brandfoss und Schweetfoss sind (abfällige) Bezeichnungen für Menschen mit leuchtend roten Haaren. “Schweet” bedeutet hier nicht Schweiß, sondern Blut (wie in der Jägersprache). Das Wort “Füerfoss” gibt es nicht, es wurde von mir erfunden. Der obige “Neckvers” lautet “Brandfuchs, Blutfuchs, Feuerfuchs, stockdumm wie ein Ochs.”

 [veröffentlicht im “Jahrbuch für den Kreis Steinfurt 2018”]

Die Puppenmama

Sie ging so gern zur Schule hin
die Haare flogen feuerrot
so saß sie in der letzten Bank
sie war so groß sie war so groß
Mit weißen Strümpfen jeden Tag
was keine trug nicht eine
das rote Kleid so schön adrett
sie war allein sie war alleine
Sie wollt ‘ne Puppenmama sein
was andres wollt sie nicht
Sibille lag in ihrem Arm
und weinte nicht und weinte nicht
‘ne bessre Puppenmama
die konnt man nirgends finden
und ihre schwarzen Schuhe
konnt sie schon selbst zubinden
Die Jungs mit ihren Trommeln
und ihr Fähnchen flatterte voran        
die sangen ihr Fähnchenlied
und dann und wann und dann und wann:
“Brand-foss, Schweet-foss, Fü-er-foss
sta-ken-un-wies äs een Oss!”
Am Boden lag das Puppenkind
das Kind das Kind es rannte los
Sie schaukelte Sibille
“Maikäfer”, sang sie, “flieg!
Der Papa ist im Krieg
die Mama ist in Pommerland
Pommerland, das wird verbrannt.”
“Brand-foss, Schweet-foss, Fü-er-foss
sta-ken-un-wies äs een Oss!”
Die Feuerhaare sprühten
Die Feuerhaare glühten
Das Kind war weg auf mal
“Mama? Wohin ist das Kind?”
“Krank geworden – im Spital -”
“Mama? Wie heißt das Kind?”
“Sei still, mein Kind.  Sei stille.”

Kleine Interpretationshilfe

 Sprechen Sie das Gedicht langsam, Silbe für Silbe.

Se gönk so gärn nao Scho Le hen
de Hao re flüö gen Er raut
so satt se in de less Te Bank
se wäör so graut, se wäör So graut.
Mit wit te Strüm pe, je Den Dagg,
dat had de süss nich ee ne.
dat rau de Kleed, so schön A drett
se wäör hal leen e wäör Hal leene
Se woll ‘ne Pup pen ma Ma sien
wat än ners woll se nich
Si bil le lagg in iäh Re Arms
un schrei de nich, un schrei De nich.
‘ne biä tre Pup pen ma ma,
de konn man niärns sens fin Nen
un iäh re schwat ten Scho He
konn se all söffs to bin nen.
De Jungs mit iäh re Trum meln.
iähr Fähn ken flatt ke de ran
de sün gen iähr Fähn kes lied,
dann un wann un dann un wann:
“Brand foss, Schweet- foss, er- foss –
sta ken un wies äs een Oss!”
An ‘n Grun de lagg Si bil Le  
se ran de loss se rann De loss.
Se  wei ge de Si bil Le
“Mai fer”, süng se, “flieg!
De Pa pa is in ‘n Krieg
De Ma ma is in Pom Mer land
Pom mer land, dat wätt ver brannt.”
Brand foss, Schweet- foss, er- foss –
sta ken un wies äs ‘n Oss!”
De rau den Hao re  wei He den
de rau den Hao re glei He den
Dat Wicht wäör wegg, mit maol
“Mama, wao hen is dat Wicht?”
“Krank wur den – in ‘t Spi taol –
“Mama? Wu hett dat Wicht?
“Schwieg still mien Kind, schwieg stil le!”

Erläuterungen zum Gedicht:

Sie werden bemerken, dass die Betonungen zunächst sehr regelmäßig dem Muster “unbetont – betont” folgen. Jede Zeile besteht aus 4 “unbetont – betont”-Paaren. Das wirkt sehr ausgewogen und damit harmonisch.

Aber schon in der zweiten Strophe taucht eine Dissonanz auf: die letzte betonte Silbe fehlt – dadurch werden die beiden letzten Wörter der Zeile betont: “nich ee – ne”. Die Sonderstellung, die Isolation der Puppenmama wird herausgestellt.

Das Fehlen von Silben verstärkt sich in der dritten Strophe: hier fehlen in der zweiten Zeile gleich zwei Silben, eine unbetonte und die eigentlich folgende betonte. Die Aussage der Zeile, nämlich dass das Mädchen nichts anderes sein wollte als eine Puppenmama, betont diese Aussage besonders. Vor dem Hintergrund der Aussage im Vortext, dass das Mädchen bereits mehrmals sitzengeblieben war, wird deutlich, dass sie sehr kindlich ist – was ihrem Alter offensichtlich nicht mehr entspricht.

Der harmonische Sprechrhythmus “unbetont – betont” der ersten Strophe wird in der vierten Strophe weiter gestört: hier fehlt jetzt in allen vier Zeilen die letzte (betonte) Silbe ganz. Spätestens jetzt kann das Gedicht nicht mehr im gefälligen Gleichtakt vortragen; aus den vier Silbenpaaren “unbetont – betont” sind jetzt sehr unharmonische 3 1/2 Paare geworden. Man kommt beim Vortrag ins Stolpern. Dazu kommt in der vierten Zeile der vierten Strophe etwas ganz Neues: der bis dahin zwar nicht immer vollständige, aber immerhin gleichmäßige Rhythmus “unbetont – betont” wird geradezu brutal durchbrochen: die fünfte Silbe “to” müsste unbetont sein, ist aber betont (und kann auch nicht unbetont ausgesprochen werden), die sechste Silbe ist unbetont statt betont. Diese Zeile ist damit im Vortrag ein regelrechter Stolperstein, der die Satzaussage massiv betont: sie konnte ihre schwarzen Schuhe schon selbst zubinden. ?? Normalerweise lernen Kinder das mit 3 – 5 Jahren. Wenn hier bei einem großen Mädchen so massiv betont wird, dass sie ihre Schuhe schon selbst zubinden konnte, dann kann das nur bedeuten, dass sie – wie sich schon bei ihrer oben festgestellten Kindlichkeit andeutete – geistig zurückgeblieben ist.

Die fünfte Strophe bringt dann den Sprechrhythmus völlig durcheinander und weist damit auf die besondere Bedeutung dieser Strophe hin. Die erste Zeile ist noch wieder ganz im alten harmonischen Wechsel “unbetont – betont”, aber auch diese Zeile ist nicht wirklich harmonisch, denn die 8. (betonte) Silbe fehlt hier genauso wie in der ganzen vierten Strophe.

In der zweiten Zeile ist dann noch einmal die alte, vollständige Sprechharmonie da: vier Doppelpaare “unbetont – betont”. Der Inhalt allerdings passt überhaupt zu dieser Harmonie: Jungs mit Trommeln, ihr Fähnchen flatterte voran – das kennt man doch, da kann man (zumindest bei uns in Westdeutschland) nur an die Hitlerjugend denken und an das Lied der Hitlerjugend: “Unsere Fahne flattert uns voran”. Und dass es genau darum geht, merkt man in der folgenden Zeile: “Sie sangen ihr Fähnchenlied”. Der Sprechrhythmus wird in dieser Zeile völlig verdreht, es ist gewissermaßen das Chaos da. Keine Spur mehr vom gefälligen Schaukelrhythmus der ersten Strophe.

In der letzten Zeile der fünften Strophe ist eine neue Harmonie erreicht: der Wechselrhythmus ist wieder da – allerdings jetzt genau umgekehrt – “betont – unbetont” – und wie in der ganzen vierten Strophe fehlt auch wieder zur Harmonie die achte Silbe. Der Inhalt wird aufs äußerste betont: durch die Umkehrung der Betonung und durch die stumpfe Wiederholung: “un dann un wann un dann un wann”. Das wirkt       bedrohlich.

Und jetzt kommt – weiter in der umgekehrten Betonung “betont – unbetont”  – der Spottvers der Hitlerjungen, der auf die roten Haare und die Zurückgebliebenheit des Mädchens anspielen: “Brandfoss, Schweetfoss, füerfoss – stakenunwies äs en Oss.” Brandfoss und Schweetfoss – diese Wörter für Menschen mit leuchtendroten Haaren kennt man. “Füerfoss” – dieses Wort gibt es nicht, passt aber zu den beiden anderen – und enthält bereits ein furchtbares Menetekel. Und dann kehrt wieder Ruhe ein: in den beiden letzten Zeilen normalisiert sich der Sprechrhythmus wieder und erreicht in der vierten Zeile das alte harmonische Gleichmaß der ersten Strophe. Inhaltlich aber ist von Harmonie keine Spur: Sibille (die Puppe) liegt am Boden, und das Mädchen rannte los. Die Verdoppelung “se rannde loss se rannde loss” macht deutlich, dass sie wegrannte, dass sie versuchte, aus dieser Situation zu entfliehen. Zwischen den Zeilen ist unverkennbar, dass die Hitlerjungen es nicht bei Hetzsprüchen beließen, sondern das behinderte Mädchen auch angriffen und ihre geliebte Puppe in den Schmutz warfen.

In der siebten Strophe kehrt, zumindest oberflächlich, wieder Ruhe und Harmonie ein. Das Mädchen wiegte die Puppe auf dem Arm und sang ihr ein Schlaflied. Aber was für ein Schlaflied! Es ist das bekannte Maikäferlied, das fürchterlichste Kinderschlaflied, das man sich vorstellen kann. Während normalerweise die Eltern ihrem Kind ein Schlaflied singen, ist es hier anders: beide Eltern sind weg – der Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommerland (also unerreichbar weit weg). Ich stelle mir vor, dass eine ältere Schwester ihr jüngeres Geschwister in den Schlaf singt, unter alptraumhaften Umständen.

Der chaotische Sprachrhythmus, die chaotisch fehlenden Silben – das alles unterstreicht die ganze Disharmonie dieser Strophe. Das Feuermotiv aus “Füerfoss” taucht hier erneut auf in der Aussage “Pommerland, dat wätt verbrannt.” Diese Stelle hakt, denn eigentlich heißt es ja im Maikäferlied “Pommerland ist abgebrannt”. Diese Stolperstelle betont das Verbrennen.

Und wieder, als erneute massive Bedrohung, folgt der Hassspruch “Brandfoss, Schweetfoss, Füerfoss – stakenunwies äs ‘n Oss!” Und dann – kehrt scheinbar Ruhe ein. Im alten, harmonischen Schaukelrhythmus “unbetont – betont” mit vier Silbenpaaren kommt die Aussage über die knallroten Haare des Mädchens: de rauden Haore weiheden, de rauden Haore gleiheden”. Nach “Füerfoss” und “verbrannt” ist “gleiheden” der dritte, unmissverständliche Hinweis auf Feuer. Erst war es nur ein Schimpfwort, dann verbrannte ein Land, jetzt glühen (im Feuer) (Menschen)haare, die Haare der Puppenmama.

Die letzte Strophe ist wieder chaotisch. Als einzige hat sie nicht, wie alle bisherigen, vier Zeilen, sondern fünf. Die Feststellung, dass das Mädchen, das jeden Morgen vor dem Haus herrannte zur Schule hin, dass dieses Mädchen plötzlich nicht mehr vorbeigerannt kam, wird in der naiven Frage der kindlichen Beobachterin an ihre Mutter ausgedrückt:” Mama, waohen is dat Wicht?” Dass die Antwort der Mutter ausweichend ist (“Krank wurden, in ‘t Spitaol”), das ist leicht zu erkennen. Dass die Mutter mehr       weiß und Angst hat, ist eindeutig an ihrer Aussage “Schwieg still, mien Kind, schwieg stille!” zu durchschauen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass das behinderte Kind nicht mehr da ist und auch nicht wiederkommen wird, es ist verbrannt worden. Über allem liegt Angst, die zum Schweigen zwingt.