Sachtexte – Prof. Dr. Dr. Grotemeyer – Ergänzung
In Werne gefundenes Buch erinnert an Riesenbecker Professor Dr. Dr. Hermann Grotemeyer (1824 – 1903)
Eine kleine Zeitkapsel
von Rudolf Averbeck
Prof. Grotemeyer war ein Sprachgenie, er sprach sieben (nach anderer Quelle 13) Sprachen und schrieb etliche sprachwissenschaftliche Werke, nicht wenige davon, wie damals üblich, auf Latein. Seine Veröffentlichung aus dem Jahre 1871 „Über die Verwandtschaft der indogermanischen und semitischen Sprachen“ hat mich besonders beeindruckt. Dieses Buch wurde 2012 als Reprint im Verlag Nabu Press neu aufgelegt (!), kann also noch erworben werden.
In Riesenbeck war er sehr bekannt und beliebt; auch 50 Jahre nach seinem Tod wurden immer noch Anekdoten über ihn erzählt. Unvergessen ist Professor Grotemeyer als großer Wohltäter des Riesenbecker Krankenhauses, als jahrzehntelanger Förderer des Riesenbecker Priesternachwuchses und als stiller Helfer in vielen Notlagen bei armen Familien.
Er und sein Bruder Arnold waren Eigentümer des heutigen Riesenbecker Vereinshauses an der Hospitalstraße (ihr Geburtshaus), das sie später der Kirchengemeinde übertrugen und in dem Pfarrer Wegener den ersten Riesenbecker Kindergarten einrichtete.
Er starb an den Folgen eines Hundebisses.
Unvergessen war in Riesenbeck auch für lange Zeit seine Beerdigung (auf der Familiengrabstätte Grotemeyer-Schencking). Diese fand nämlich zwei Tage vor der Beisetzung des Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses des Reichstages, Clemens August Freiherr von Heereman, statt, so dass es in Riesenbeck innerhalb kürzester Zeit zwei sehr große Beisetzungen gab, über die überregional in den Zeitungen berichtet wurde. Clemens August Freiherr von Heereman wurde übrigens nicht auf dem Friedhof beigesetzt, sondern am Außenchor der Riesenbecker Pfarrkirche, woran noch heute eine Gedenktafel erinnert.
Den Artikel über Prof. Grotemeyer hatte ich, mehrere Jahre nach der Veröffentlichung, schon fast wieder vergessen.
Dann aber wurde ich völlig überraschend dieser Tage wieder daran erinnert – durch die E-Mail eines Buchantiquariats aus Werne.
„Ich hatte soeben einen Band ‚Reallexikon des classischen Alterthums‘ in der Hand, welcher einen Besitzervermerk von Dr. Grotemeyer – Kempen 1867 – trägt.“, las ich da. „Dabei bin ich über Ihren Artikel gestolpert. Ich wollte kurz nachfragen, ob Sie Interesse an dem Band haben.“
Hermann Grotemeyer war von 1861 bis zu seiner Pensionierung 1890 als Gymnasiallehrer am Thomaeum in Kempen am Niederrhein tätig. Auch seine damaligen Unterrichtsfächer (neben Religion unterrichtete er alte Sprachen – Griechisch, Hebräisch und Latein) passen genau zu dem vom Antiquariat angebotenen Buch.
Als Altsprachler war er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit im Besitz des von Friedrich Lübker im Teubner Verlag, Leipzig, herausgegebenen „Reallexikons des classischen Altherthums für Gymnasien“. Dieses Sachlexikon enthielt praktisch das gesamte damalige Fachwissen rund um die Antike und war daher eine hervorragende Ergänzung zum reinen Sprachunterricht. Es war im deutschsprachigen Raum ein weit verbreitetes Standardwerk und, wie es in der Vorrede zur ersten Auflage heißt, ein „unerläßliches Mittel jeder wahrhaften höheren Bildung“. Gedruckt wurde es von 1855 bis 1914 in 8 Auflagen. „Classisches Alterthum für Gymnasium“ – das hieß damals natürlich, dass fundierte Latein- und Griechisch-Kenntnisse vorausgesetzt wurden, denn die meisten Stichwörter sind nicht nur in Latein, sondern ergänzend auch in Griechisch aufgeführt. So sind z.B. viele lateinische und griechische Zitate sind in den Erläuterungen enthalten.
Darüber hinaus enthält das Buch viele Abbildungen (Stahlstiche?), die viele Stichwörter anschaulich machen. Das Stichwort „Thermopylai“ z.B., in dem es unter anderem um die 300 gefallenen Spartaner unter Leonidas geht, war dem Herausgeber zur Veranschaulichung der Schlacht eine ganzseitige Landkarte wert. Die Abnutzungsspuren am Buch sowie die zahlreichen akkuraten Bleistiftunterstreichungen und Randstriche weisen deutlich auf die langjährige Nutzung, aber auch auf den sorgsamen Umgang mit dem Buch hin.
Das genannte „Reallexikon“ stammte also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tatsächlich aus dem Eigentum von Prof. Grotemeyer. Hinzu kommt, dass ich glaube, seine Handschrift wiederzuerkennen.
Das Buch an sich ist schon eine kleine Zeitkapsel aus der Schulwelt des Riesenbecker Professors. Auf welchen Wegen es in das Antiquariat in Werne gefunden hat, das wird sich wohl nie klären lassen. Ein gewisser „R. Mörstedt“ – wer immer das war – steht als weiterer Eigentümer vorne im Buch. Der Name Mörstedt kommt im Ruhrgebiet häufiger vor, was auch zum Sitz des Antiquariats in Werne passen würde.
In dem Buch fanden sich zwei lose eingelegte Notizzettel. Der eine war unbeschrieben, der andere aber enthielt zwei handschriftliche Notizen, die – meiner Meinung nach ohne Zweifel – von Dr. Grotemeyer stammen und zeigen, womit er sich seinerzeit beschäftigte.
Die erste Notiz lautet
„Der Glaube an ein Jenseits, an die “.
Diese Notiz bricht ab und ist durchgestrichen. Vielleicht handelte es sich um erste Skizzen zu einer Predigt? Vielleicht ging es um eine (Religions-)Unterrichtsvorbereitung?
Bei der zweiten Notiz scheint Prof. Grotemeyer den Gedanken der ersten Notiz umgearbeitet und zu Ende ausformuliert zu haben.
„Wohl die eigenartigste Erscheinung im Leben der Naturvölker, auch aller Völker ist von je der Tod gewesen.“
heißt es da (Übersetzung der schwer lesbaren Handschrift: Dr. Heinz Mestrup, Leiter Bistumsarchiv Münster).
Das unerwartete Auftauchen dieses sehr persönlichen Erinnerungsstücks rührt mich auf eigentümliche Weise an. Es ist ein überraschender Einblick in etwas, mit dem er sich vor weit mehr als 100 Jahren beschäftigt hat. Hinter der recht distanzierten historischen Persönlichkeit wird plötzlich ein wenig der plastische, lebendige Mensch in seiner Zeit und seiner Welt erkennbar. Dieses Buch und dieser handschriftliche Zettel bringen den Menschen Hermann Grotemeyer näher als eine ganze Seite biographischer Daten.
Auf jeden Fall ist dieses Erinnerungsstück, wie man in Riesenbeck sagt, ein „Angiëfken“ (= willkommener Anlass) dafür, wieder einmal an Prof. Dr. Dr. Hermann Grotemeyer, den großen Riesenbecker Sprachgelehrten, zu erinnern.