Karl Kistler
Am 03.04.1945 tobte am Birgter Berg eine Schlacht zwischen den vorrückenden britischen Truppen und der zurückweichenden Wehrmacht. Über 100 britische und 43 deutsche Soldaten kamen an diesem Tag ums Leben.
Einer der deutschen Gefallenen war der junge Grenadier Karl Kistler. Er wurde 19 Jahre, zwei Monate und elf Tage alt. Er starb – fünf Wochen vor Kriegsende – durch einen Kopfschuss.
Seine Wehrmachtsunterlagen in Berlin sind durch Kriegseinwirkung zerstört worden, ein Foto von ihm konnte ich nicht finden. Auf dem Friedhofsmeldeschein wird er als „etwa 185 groß, blonde Haare, sehr kräftige Gestalt“ beschrieben. Er hatte noch nicht einmal einen Beruf erlernt; in den wenigen Dokumenten über ihn wird er mal als „Schüler“, mal als „Praktikant“ bezeichnet.
Eine ganze Woche lagen die gefallenen deutschen Soldaten auf dem Schlachtfeld, bevor die Gesamtsituation sich soweit normalisiert hatte, dass die britische Ortskommandatur die Bergung der Gefallenen anordnen konnte.
Für die Gefallenen wurden zwei Soldatenfriedhöfe angelegt: in der Nähe des Kanals ein englischer, im Brumleytal ein deutscher. Die gefallenen Engländer wurden 1947 auf den britischen Reichswaldfriedhof in Kleve umgebettet. 1998 wurden bei Bauarbeiten der Firma OASE-Pumpen weitere 7 gefallene Briten gefunden. Sie fanden ihre letzte Ruhestätte ebenfalls auf dem Reichswaldfriedhof.
Der Birgter Bauer Heinrich Hardebeck stellte ein Hanggrundstück im Brumleytal, im Bereich der schlimmsten Kampfhandlungen, für einen deutschen Soldatenfriedhof zur Verfügung.
Karl Kistler wurde zunächst als unbekannter Soldat behandelt (hatte er keine Ausweispapiere bei sich?); seine Erkennungsmarke wurde an die Deutsche Dienststelle in Berlin geschickt. Diese teilte erst 1947 dem Standesamt Ibbenbüren mit, dass der Inhaber der Erkennungsmarke „Gren(adier) E.(Ersatz)B.(Bataillon) 82 1821“ Karl Kistler war, geboren am 23.01.1926 in Salzburg (Österreich). Die Anschrift des Vaters lautete: Luitpold Kistler, München 42, Lutzstr. 16. Der Standesbeamte in Ibbenbüren bat daraufhin die Kollegen vom Standesamt München um Feststellung, ob die Angehörigen bereits vom Tode unterrichtet wurden. „Sollten sie bislang keine Nachricht erhalten haben,“, schrieb er weiter, „so bitte ich Sie, in der Ihnen geeignet erscheinenden Weise die Angehörigen davon in Kenntnis zu setzen und ihnen gleichzeitig meine aufrichtigste Teilnahme auszusprechen.“
Das Standesamt München stellte am 29.07.1947 Karl Kistlers Sterbeurkunde aus.
Sein Vater Luitpold starb 1947. Er war städtischer Angestellter, seine Frau Therese arbeitete in einem Hotel. Ein sehr alter Mieter des Hauses Lutzstr. 16 konnte sich noch im Jahr 2021 an die Kistlers erinnern. „Sie hatten ein Zimmer ohne (fließendes) Wasser“, erzählte der alte Mann. An den jugendlichen Karl Kistler konnte er sich nicht erinnern.
Auf das Schicksal von Karl Kistler wurde ich durch Hermann Schräder aus Birgte aufmerksam gemacht. Er hat früher bei der Gemeinde Riesenbeck als Gemeindearbeiter gearbeitet und ist 2022 verstorben.
„Ick kann di nich men genau säggen, wu lange dat nu hiär is, aower et ligg wisse all üöwer füfftig Jaohr trügge. Wi Stadtsoldaoten mossen daomoss fröh muornssens up denn Soldaotenkiärkhoff in ‘t Brumleytal antriäten.“ erzählte er in bestem Riesenbecker Platt („Ich kann dir nicht mehr genau sagen, wie lange das jetzt her ist, aber es liegt sicher schon über fünfzig Jahre zurück. Wir Stadtsoldaten (= Gemeindearbeiter) mussten damals früh morgens
dir nicht mehr genau sagen, wie lange das jetzt her ist, aber es liegt sicher schon über fünfzig Jahre zurück. Wir Stadtsoldaten (= Gemeindearbeiter) mussten damals früh morgens auf dem Soldatenfriedhof im Brumleytal antreten.“). Ein österreichisches Bestattungsunternehmen war da.
Hermann Schräder erzählte, dass es darum ging, einen der gefallenen Soldaten zu exhumieren. „Die Soldaten liegen nicht unter ihren Holzkreuzen, sondern in der Mitte des Friedhofs in einer langen Reihe von unten nach oben zum Hochkreuz. Das ist eigentlich ein Massengrab.“ erzählte er (auf Platt). „Alle Gefallenen sind in Planen eingewickelt, und Heinrich Hardebeck hatte 1945 bei der Beerdigung gewissenhaft Aufzeichnungen gemacht. So konnte exakt bestimmt werden, wo der Gefallene liegen musste. Als wir beim Graben auf eine Zeltplane stießen, wurden wir Stadtsoldaten weggeschickt. Ab jetzt übernahm das angereiste Bestattungsunternehmen.“
Die Männer der österreichischen Firma Wels erzählten den Riesenbecker Gemeindearbeitern eine anrührende Geschichte. Danach steckte hinter dieser Umbettung eine sehr unglückliche Liebesgeschichte, die sich in Bayern oder Österreich zugetragen haben soll.
Der junge Karl und die Tochter eines reichen Gasthausbesitzers waren ineinander verliebt. Leider war diese Beziehung nicht standesgemäß, denn Karl stammte aus einfachen Verhältnissen. Als Karl zum Arbeitsdienst einberufen wurde, erhielt er von seiner Freundin ein besonderes Geschenk: eine Halskette, die ihn immer an sie erinnern sollte. Nach dem Arbeitsdienst (1944) ging es für Karl Kistler direkt weiter zum Kommiss und in den Krieg. Er wurde dem Grenadier-Ersatzbattaillon 82 zugewiesen, eine Einheit, die 1944 in Nordfrankreich stationiert war und in den Wochen nach dem D-Day fast vollständig aufgerieben worden war. Karl Kistler gehörte zu den Soldaten, die das Bataillon wieder auffüllten. Gegen Kriegsende war es erneut weitgehend aufgerieben.
Seine Freundin hat vermutlich 1947 über seine Eltern von seinem frühen Tod erfahren. Sie hat nie geheiratet, und sie hat ihren Karl nie vergessen.
Nach dem Tod ihrer Eltern war sie wohlhabend geworden. Jetzt wollte sie ihren Geliebten in ihrer Nähe haben und veranlasste die (bürokratisch sehr aufwändige und auch sehr teure) Umbettung nach Österreich. Das Umbettungsverfahren konnte nur zusammen mit Karls Mutter durchgeführt werden, denn als Freundin war sie nicht antragsberechtigt. Den Männern des Bestattungsunternehmens hatte sie eine Beschreibung ihrer Halskette mit auf den Weg mitgegeben.
Beim Öffnen der ersten Plane wurde die Halskette tatsächlich sofort gefunden. Sie war der eindeutige Beweis, dass man den richtigen Gefallenen gefunden hatte.
An dieser Stelle möchte ich allen an der Bergung der Gefallenen und der Anlage des Friedhofes Beteiligten auch für ihre Ehrlichkeit danken. Anders als bei den anderen Soldatenfriedhöfen ist hier kein einziger Fall bekannt, bei dem Eigentum der Gefallenen abhanden kam.
Karl Kistler wurde am 21.12.1960 auf den Kommunalfriedhof in Salzburg überführt – auf einen der schönsten Friedhöfe in Europa. Zu diesem Zeitpunkt wohnte seine Mutter offensichtlich wieder in Salzburg.
Auf dem Ehrenfriedhof im Brumleytal wurden in den 1960er Jahren die provisorischen Holzkreuze durch Kreuze aus heimischem Sandstein ersetzt. 42 Gefallene sind auf den Kreuzen verzeichnet. Ein Grabkreuz mit Karl Kistlers Namen gibt es nicht, schließlich ist er ja auch nicht mehr hier begraben.
Als Karls Mutter Theresia Kistler (geb. 01.05.1904, geborene Stutz aus Bischofshofen) am 08.11.1982 in Österreich starb, wurde sie in Salzburg auf Karls Grabstelle beigesetzt. 1994 wurde das Grabdenkmal abgetragen („weil sich niemand mehr um dieses Grab kümmern
wollte“). Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass seine Jugendfreundin inzwischen verstorben war und dass er keine Geschwister hatte. Da auch die Suchanzeigen in München und Salzburg ergebnislos blieben, könnte es sein, dass die Familie ausgestorben ist.
1999 wurde die Grabstelle neu vergeben. Heute erinnert (auch) auf dem Kommunalfriedhof nichts mehr an Karl Kistler.
Alle Bemühungen um Klärung des Schicksals von Karl Kistler verliefen leider weitgehend im Sande. Eine Suchannonce in den Salzburger Nachrichten vom 11. September 2021 „(Wer kannte Karl Kistler?“) blieb ohne jede Resonanz, ebenso eine gleiche Suchanzeige im Münchner Merkur vom 11. / 12. Dezember 2021 Obwohl der Name Kistler im süddeutschen / österreichischen Raum recht geläufig ist, gab es keinerlei Rückmeldungen. Das alles war schon sehr enttäuschend. So bleibt auch der Name der Freundin unbekannt. Bedauerlich ist auch, dass bis heute kein Bild von Karl Kistler gefunden werden konnte.
Karl Kistler, der Gefallene, an den kein Steinkreuz auf dem Ehrenfriedhof Brumleytal erinnert, der nicht in den Friedhofslisten genannt wird und von dem nicht einmal ein Bild vorliegt, ist offensichtlich fast völlig in Vergessenheit geraten. Die einzigen dürftigen Hinweise auf ihn kann man in Archivunterlagen und im Riesenbecker Heimatbuch finden, wo er in der Liste der Gefallenen aufgeführt wird.
Meine Frau und ich wollten, dass Karl Kistler nicht vollständig vergessen wird, und so entstand der Plan, einen Gedenkstein auf dem Soldatenfriedhof im Brumleytal für ihn zu errichten.
Mit der freundlichen Unterstützung durch die Stadt Hörstel (Herr Fislage), das Friedhofsamt Ibbenbüren, dem Heimatverein Riesenbeck (Gregor Werthmöller), dem Bürgerschützenverein St. Hubertus Birgte (Klemens Wölte) und der Kriegsgräberfürsorge (Herr Held) konnte dieses Vorhaben umgesetzt werden. Unser Gestaltungsvorschlag: eine niedrige Erinnerungsstele aus einheimischem Sandstein mit gleichartiger Bossierung wie die Steinkreuze der Gefallenen und mit einer Edelstahlplakette auf einer pultartigen Schräge. Die Plakette ist in Form und Beschriftung an die Steinkreuze angelehnt. Auf dem Edelstahlkreuz sind zusätzlich zwei QR-Codes angebracht, die schriftlich oder audiovisuell über Karl Kistler und die traurige Liebesgeschichte informieren.
Dieser Gestaltungsvorschlag wurde akzeptiert. Herr Held von der Kriegsgräberfürsorge legte den Standort der Stele fest: auf dem Soldatenfriedhof im Brumleytal in der untersten Kreuzreihe direkt am Mittelgang – wegen der leichten Zugänglichkeit, insbesondere auch der QR-Codes. Die Stele steht dicht am Grabkreuz von Franz Dubois, der direkt neben Karl Kistler gefallen war.
Am 26.08.2023 wurde die Stele von Benedikt Laumann, Lars Henrik Averbeck und Rudolf Averbeck aufgestellt.
Am 19.11.2023, dem Volkstrauertag, wurde sie von Pastor Wiemeler eingeweiht. Vor etwa 50 Erschienen des Heimatvereins Riesenbeck und des Bürgerschützenvereins St. Hubertus Birgte trug Rudolf Averbeck einiges über die Geschichte und die Hintergründe dieser Stele vor.
Wir sind es diesem jungen Menschen und allen anderen Gefallenen schuldig, dass sie nicht vergessen werden.