Literarische Texte – Prosa“Up de Loburg”

Up de Loburg     (vön Rudolf Averbeck)

Auf der Loburg     (von Rudolf Averbeck)

5.12.1966. Een schmuddeligen, natten Dagg in ‘t Mönsterland mit deip hangende, schwaore Wolken. He stönn un keek de griese Straote langes, un de Wind plüsterde emm dat Haor sträöhnig düör’neener. ‘ne lange, lange Straote, rechts un links graute Baime, un de Wind jaggde de lessten saoren Blader draff un dreef se vüör sick hen. Ganz wiet wegg säög et ut, äs wenn de Straote in eenen Punkt tesammenlöp, un dao ächten verschwünnen ganz langsam de Rücklechter vön iährn ollen Opel. De rauden Lechter speigelnden sick up de natte Straote, twee lange Striepen, well gleihnig up emm tolöpen – un dann verweiheden se in denn Stoffriängen.

5.12.1966. Ein schmuddeliger, nasser Tag im Münsterland mit tief hängenden, schweren Wolken. Er stand und sah die graue Straße entlang, und der Wind blies ihm das Haar strähnig durcheinander. Eine lange, lange Straße, rechts und links große Bäume, und der Wind jagte die letzten vertrockneten Blätter ab und trieb sie vor sich hin. Ganz weit weg sah es aus, als wenn die Straße in einem Punkt zusammenliefe, und da hinten verschwanden ganz langsam die Rücklichter ihres alten Opel. Die roten Lichter spiegelten sich auf der nassen Straße, zwei lange Streifen, die glühend auf ihn zuliefen – und dann verwehten sie im Nieselregen.

Et riängede sick sachte in, un he häörde nicks änners men äs dat sachte Pladdern und Ruuschken. Unentschluoten, langsam weggede he sick un gönk löss, wegg vön ‘n Parkplatz, up denn Sextanerbau to, an dat olle Schlott vüörbie. „Collegium Johanneum“ stönn dao in ‘t Halfdüstern, un dat Water löp üöwer de Bokstaben. Früemd stönn dat Schlott dao, dunkelgries un natt, ächter de hellgriese Gräfte, un dat Schlott speigelde sick in ‘e Gräfte, verschwommen, unscharp, wiägen denn Riängen.

Es regnete sich langsam ein, und er hörte nichts anderes mehr als das sanfte Plätschern und Rauschen. Unentschlossen, langsam bewegte er sich und ging los, weg von dem Parkplatz, auf den Sextanerbau zu, an dem alten Schloss vorbei. „Collegium Johanneum“ stand da im Halbdunkel, und das Wasser lief über die Buchstaben. Fremd stand das Schloss da, dunkelgrau und nass, hinter der hellgrauen Gräfte, und das Schloss spiegelte sich in der Gräfte, verschwommen, unscharf, wegen des Regens.

Dao wass he nu, up de latienschke Schole.

Da war er nun, auf der lateinischen Schule.

Dütt wass ‚’n ganz ännern Scholjaohreswessel äs süss. Beslang gaff et Zeugnisse immer te Ostern, un nao de Osterferien wäör m’ in ‘n naichsten Jaohrgang. Dütt Jaohr auk, aower nu gaff et dat twedde Maol in ‘t sölwige Jaohr Versetzungszeugnisse. Un he moss nu in ‘n Winter up höggere Schole, nao jüst maol drei’nhalf Jaohre up Schole. Un dann no’ in ‘t Internat, wao he nich eenen kannde, nich eenen.

Dies war ein ganz anderer Schuljahreswechsel als sonst. Bislang gab es Zeugnisse immer zu Ostern, und nach den Osterferien war man im nächsten Jahrgang. Dies Jahr auch, aber jetzt gab es zum zweiten Mal im gleichen Jahr Versetzungszeugnisse. Und er musste nun im Winter auf die höhere Schule, nach gerade einmal dreieinhalb Jahren auf der Schule. Und dann noch ins Internat, wo er keinen einzigen kannte, keinen einzigen.

Dütt wass ‘ne ännere Versetzung, ‘ne ganz ännere.

Das war eine andere Versetzung, eine ganz andere.

Binnen wäör ‘t drüge, lange Riegen mit Waschkbeckens, niëgen witte Iesenbedden up jeden Schlaopsaal un ‘n Krankenhuusrüëk üöwerall in alle Flure. In ‘e Taschke follde he denn kleinen Schlüëdel för sien Wandschapp, wao siene Hiëmde un Unnerplinten in laggen, un üöwerall wäör ‘n Namenschildken innaihet, mit sienen Namen drupp, un ganz buom stönn sien Kuffer.

Drinnen war es trocken, lange Reihen mit Waschbecken, neun weiße Eisenbetten auf jedem Schlafsaal und ein Krankenhausgeruch überall in allen Fluren. In der Tasche fühlte er den kleinen Schlüssel für seinen Wandschrank, wo seine Hemden und Unterhosen drin lagen, und überall war ein Namensschildchen eingenäht, mit seinem Namen drauf, und ganz oben stand sein Koffer.

He wischkede sick denn fienen Nieselriängen vön ‘e Brille. Schwatt un lang stönn de graute Bau vüör emm, de grellgiälen Fensters messerscharp ut dat Schwatte utschniëden. Binnen rannden Jungs. Jungs in sien Oller, waohrschienlick alles Klassenkameraden, well he no’ nich kannde.

Er wischte sich den feinen Nieselregen von der Brille. Schwarz und lang stand der große Bau vor ihm, die grellgelben Fenster messerscharf aus dem Schwarzen ausgeschnitten. Drinnen rannten Jungs. Jungs in seinem Alter, wahrscheinlich alles Klassenkameraden, die er noch nicht kannte.

He woll de Düöre lössschuben, aower se gönk schwäörer äs dacht, un he moss mit aller Kraft schuben. Un wier düsse schäbbige Rüek nao Krankenhuus un Bohnerwass. De Brille beschlög, un dat Geschrei vön de viëlen Jungs schlög up emm in. Un in ‘n naichsten Augenschlagg rannde emm all eener üm, he föll up de Kneie un rutschkede üöwer denn glatten Buoden. Seihn konn ‘e nicks, weil siene Brille beschlaon wäör, un he schlukede un tröck vör Piene de Kneie an, un de Haore  kliëweden emm an ‘n Kopp.

Er wollte die Tür losschieben, aber sie ging schwerer als gedacht, und er musste mit aller Kraft schieben. Und wieder dieser schäbige Geruch nach Krankenhaus und Bohnerwachs. Die Brille beschlug, und das Geschrei von den vielen Jungs schlug auf ihn ein. Und im nächsten Moment schon rannte ihn einer um, er fiel auf die Knie und rutschte über den glatten Boden. Sehen konnte er nichts, weil seine Brille beschlagen war, und er schluckte und zog vor Schmerzen die Knie an, und die Haare klebten ihm am Kopf.

„Ey, wat is? Komms ‘e mit nach draußen? Wir spielen fangen, et regnet nich mehr!“, röp emm eener to un hölp emm up, un he rannde, mit Piene in ‘e Kneie, vüör de Düöre. Et riängede nich men, et wass warm buten, un de Jungs rannden rund üm de Gräfte und spíëlden fangen, un allmäöhlick würd et ganz düster. Pickschwatt stönn dat graute Schlott vüör denn schwatten Wald, un dat Lecht ut de haugen Fensters speigelde sick up de olle Brügge, up ‘ne früëmde, eegenartig oltvertruute Wiese.

„Ey, wat is? Komms ‘e mit nach draußen? Wir spielen fangen, et regnet nich mehr!“, rief ihm einer zu und half ihm auf, und er rannte, mit Schmerzen in den Knien, vor die Tür. Es regnete nicht mehr, es war warm draußen, und die Jungs rannten rund um die Gräfte und spielten fangen, und allmählich wurde es ganz dunkel. Pechschwarz stand das große Schloss vor dem schwarzen Wald, und das Licht aus den hohen Fenstern spiegelte sich auf der alten Brücke, auf eine fremde, eigenartig altvertraute Weise.

„Et geiht wieder“, dachde he, „muorn is Nikolaus, un dann seiht wi wieder. Kuortscholjaohre …“, un he koppschudde.

„Es geht weiter“, dachte er, „morgen ist Nikolaus, und dann sehen wir weiter. Kurzschuljahre…“, und er schüttelte mit dem Kopf.

[veröffentlicht in „Dat Mönsterlänner Platt – Lehrbuch“, S. 96 – 97]